Die Dissoziative Identitätsstörung (DIS) verstehen

Die Diagnose DIS – Dissoziative Identitätsstörung ruft bei den meisten Menschen Fragezeichen hervor. Eher bekannt ist sie ja bis heute noch als „multiple Persönlichkeit“.

Das Telefon klingelt, der Chef ruft an: „Ich erwarte Sie in einer halben Stunde in meinem Büro. Und dann erklären Sie mir Ihre zwei unentschuldigten Fehltage.“ Aber es gibt nichts zu erklären. Gestern war man noch in der Firma und nun soll man zwei Tage gefehlt haben? Ist das ein schlechter Scherz oder ist man dabei, verrückt zu werden?

Man schaut sich in der Wohnung um und bemerkt, dass diese völlig neu dekoriert wurde. Wann? Von wem? Und warum weist das Konto ein großes Minus auf?

Das kann passieren, wenn man Viele ist. Wenn die Seele sich schon früh bei andauernden traumatischen und lebensbedrohlichen Erlebnissen von Vernachlässigung und Qual vom Körper und dem grausamen Geschehen abspalten musste. Wenn sie neue Identitäten erschaffen musste, um zu überleben. Dann erscheint vielleicht die eine Persönlichkeit, die keine Schmerzen empfindet. Weil der Körper unbeschreibliche Qualen erleiden musste. Eine andere, die unter völliger Amnesie leidet, weil das einfacher ist, als die Wahrheit anzunehmen. Darüber hinaus gibt es die Alltagspersönlichkeit, die den Job schmeißt, einkaufen geht und vielleicht am Elternabend in der Schule ihrer Kinder teilnimmt. Oftmals weiß diese Alltagspersönlichkeit nichts von ihren „Mitstreitern“, die sich mit ihr den Körper teilen und helfen, diesen am Leben zu erhalten. Denn sie und der Körper sind ein System! Doch haben auch diese „Anderen“ ihre Bedürfnisse oder Befehle und übernehmen dann den Körper, wobei sie die Alltagspersönlichkeit verdrängen, sodass diese sich wegdissoziiert. Sich quasi in einen Winterschlaf begibt. Dieser eigentlich natürliche Überlebensmechanismus wird auch ganz bewusst von perversen Tätern, hauptsächlich im Rahmen der sexualisierten und rituellen Gewalt, in den Opfern geschaffen. Denn die Täter haben die Absicht, den „Körper“ für ihre Zwecke gefügig zu machen.

Zurück bleibt eine Person, ein Körper, für alle sichtbar, doch voller Persönlichkeiten, die in ihrem Moment von höchster Not nur erscheinen, um zu überleben. „Kommt es zu Erfahrungen, die die psychischen Verarbeitungsmöglichkeiten eines Kindes in extremer Weise überfordern, reagiert dieses bis zu einem Alter von 6 Jahren gewöhnlich mit dissoziativen Schutzmechanismen. Das Erleben spaltet sich auf und es können in der Folge Persönlichkeitsanteile entstehen, die nur schwer durch die Alltagspersönlichkeit kontrollierbar sind.“ (Zitat von Professor Dr. med. Martin Sack, Facharzt für Psychosomatische Medizin und leitender Oberarzt an der Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie des Klinikums rechts der Isar der TU München im Geleitwort für das Buch „Anne und die anderen“ von Christa Windmüller)

Zu oft noch wird die Diagnose DIS bei Behörden und Gerichten als Fantasie und Wichtigtuerei verurteilt, obwohl sie im DSM-5 (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders – Diagnostischer und Statistischer Leitfaden psychischer Störungen) oder dem ICD-11 (International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems – Internationale Klassifikation der Krankheiten), der seit dem 01. Januar 2022 gilt, aufgeführt ist.

Selbst für Betroffene ist es oft schwer, mit ihrem Leben im System „Viele sein“, umzugehen.

Anne hat genau das erlebt und mithilfe ihrer Therapeutin gelernt, ihr System kennenzulernen. Sodass die Vielen in ihr gelernt haben, sich gegenseitig zu helfen.

Anne ist nicht ihr richtiger Name. Aber sie war/sie waren eine Klientin von Christa Windmüller, die in ihrem Buch „Anne und die anderen“ beschreibt, wie Anne ihr System und somit ihren Alltag kennenlernte. Außerdem konnte sie viele Aspekte in ihr jetziges Leben integrieren.

Ich persönlich lese dieses aufklärende und spannende Buch nicht als einen Roman. Diese Bezeichnung ist auf dem Titelbild eher irreführend. Dadurch ist man verleitet, alles als Fiktion anzusehen. Leider ist das Leben von Anne Realität, was Viele bestätigen können. Das Buch ist vielmehr ein anonymisierter Therapiebericht, der eine Biografie enthüllt, die man sich nicht vorstellen möchte. Eine Biografie, der sich so oder ähnlich viele Viele irgendwann stellen müssen. Um das Grauen, das ihnen angetan wurde, verarbeiten zu können. Das Trauma anzuerkennen und zu integrieren, es an seinen Platz im Leben zu verweisen, ist der Weg zur Genesung. Dann können viele der Vielen zur Ruhe kommen. Und was sich so leicht liest, ist harte und jahrelange Arbeit. Aber auch das geht vorbei. Irgendwann, wenn man dran bleibt.

Gerade deshalb ist es wichtig, sich mit dem Thema auseinanderzusetzen.

„Anne und die anderen“ ist meine Buchempfehlung für alle Professionellen, die sich mit der Diagnostik DIS befassen. Aber auch für all die Betroffenen, denen ihre eigene DIS noch nicht ganz klar ist. Für diese sei hier eine TRIGGERWARNUNG ausgesprochen!

Außerdem mein Wunsch zur Selbstfindung und zur Kraft, weiterzumachen und weiterzuleben. Das Schlimmste, was man den Tätern antun kann, ist, gesund zu werden. Das soll auf keinen Fall als Aufruf zum Rachefeldzug verstanden werden. Sondern als eine Motivation, nicht an dieser erlebten und unsagbaren Ungerechtigkeit zu verzweifeln! Es geht darum, sich selbst besser kennenzulernen und zu verstehen.

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