Corona, Teil-Lockdown, Shutdown, Ausgangssperre. Eine Welt im Durcheinander.
Wir müssen uns schützen, andere schützen und so gut es geht die Verbreitung des Virus verhindern. Covid-19 schränkt unser Leben zurzeit mächtig ein. Wir wollen alle (gut) leben und am besten niemanden gefährden.
Viele haben Angst vor dem Virus, manche zweifeln seine Existenz an. Doch am Ende möchte doch niemand dafür verantwortlich sein, irgendjemand in Gefahr zu bringen. Alle Länder dieser Welt – und nicht nur die Bundesrepublik Deutschland – haben das Leben der Menschen aufgrund der Pandemie eingeschränkt. Die einen mehr, die anderen weniger. In manchen Ländern gibt es wegen Covid-19 Ausgangssperren und sogar zum Einkaufen im Supermarkt muss man eine schriftliche Berechtigung vorweisen; diesen triftigen Grund zum Verlassen des Hauses. Das ist in Deutschland zum Glück nicht so.
Beim Einkaufen im Supermarkt geht es um das Wohlbefinden des Körpers. Doch was ist mit dem Wohlbefinden der Seele?
Kunst, Kultur… alles Humbug? Weil das den Magen nicht füllt? Weil man auch ohne Kunst überleben kann?
Sagt die Künstlerin Susanne Beucher, die mit ihrer Kunst – Kopffüßler und andere Wesen in allen Formen und Farben und jeden Alters, mit und ohne Gebrechen – Leinwände, Pappteller, T-Shirts und vieles mehr belebt.
Ihre Figuren sagen, was wir denken. Kommentieren das aktuelle Geschehen und kritisieren festgefahrene Bilder. Ab und zu überraschen sie uns, wenn ihre Kommentare unsere Gedanken vorwegnehmen. Oder sie unsere Wünsche äußern.
Der Mensch lebt nicht vom ESSEN allein…
Gesundheit wird nicht nur über den Körper definiert. Auch die Psyche muss im Gleichgewicht sein, damit der Mensch gesund ist.
Kunst und Kultur tragen wesentlich zum Wohlbefinden eines jeden bei. Doch wenn Kultur nicht wie gewohnt stattfinden darf, weil ein fieses Virus das vergräzt, wenn Kunst nicht mehr systemrelevant ist, weil ein Bild den Magen nicht füllt…
…dann muss man umdenken, damit auch die Seele da sein darf. Damit Kunst ihren so wichtigen Stellenwert in der Gesellschaft nicht verliert! Denn ohne Kunst verkümmern wir. Ohne Kunst ist das Leben nur halb so lebenswert!
Man kann lamentieren oder aktiv werden. Susanne Beucher hatte eine Ausstellung ihrer Werke coronakonform ausgerichtet und organisiert. Kurz vor der Eröffnung kam die niederschmetternde Nachricht: Wir müssen die Ausstellung absagen!
WAS TUN?
Sofortmaßnahme gegen den Corona-Blues! Kunst auf Rädern!
Galerien und Museen sind geschlossen. Man darf also nicht rein, um Kunst zu erleben. Aber Kunst kann raus! In den Park, auf die Straße.
Susanne Beucher packte ihre Kunstwerke in einen Bollerwagen, besorgte sich ein Megaphon (so spricht man viele Leute auch mit Mindestabstand an) und begab sich an den Decksteiner Weiher in Köln.
“Ich musste all meinen Mut aufbringen. Ich hatte ja keine Ahnung, wie das ankommen würde!” sagt die Künstlerin.
Sie hat es gewagt. Ein neues Konzept etabliert: “Kunst auf Rädern”. Denn: darfst du nicht rein in Galerien und Museen, komme ich zu dir!
Das ist der Titel des Dokumentarfilms von der Journalistin und Filmemacherin Stefanie Gromes, den sie für den WDR gemacht hat. Mir ist es eine große Freude, dass meine Selbsthilfegruppe für Borderline-Angehörige in diesem Film zu Wort kam.
Frau Gromes und ihr Team haben ein Selbsthilfetreffen mit drei Eltern von Kindern mit Borderline an einem Abend begleitet.
Alle Filmemacher waren aufmerksam und einfühlsam bei ihrer Arbeit. An dieser Stelle ein großes Dankeschön an Frau Gromes und ihre Crew.
Der WDR selbst schreibt folgende Zusammenfassung des Films:
“Laut einer DAK-Studie zeigte jedes vierte Schulkind in Deutschland psychische Auffälligkeiten. Mit Corona hat sich ihre Belastung noch verschärft. Viele Kinder leiden still. Deshalb ist es wichtig, schon die Anzeichen zu kennen und richtig zu deuten. Was sind die Alarmzeichen, wenn mein Kind in eine seelische Schieflage gerät? Was mache ich dann?
„Wir hatten plötzlich den Zugang zu unserem Kind verloren. Das war für mich beschämend, gebe ich ganz ehrlich zu, mir einzugestehen, da läuft etwas schief.“ Diese ehrlichen Worte einer Mutter können Eltern ängstigen. Denn wenn sich das eigene Kind plötzlich verändert, sich zurückzieht, die Noten schlechter werden, und es sich einfach anders als gewohnt verhält, fühlen sich Kind und Eltern oft hilflos.
Bei Jugendlichen sei der Übergang vom üblichen pubertären Seelenschmerz zu ernsthaftem Leiden fließend, sagen Psychologen. WDR-Reporterin Stefanie Gromes, selbst Mutter, geht der Frage nach, weshalb Kinder und Jugendliche in psychische Schieflagen geraten und wie man ihre seelische Gesundheit fördern und stärken kann. Unterwegs im Westen begegnet sie unter anderem einer Selbsthilfegruppe betroffener Eltern, spricht mit Psychotherapeuten und Ärzten. Sie besucht eine Schule, die die seelische Gesundheit ihrer Schülerinnen und Schüler auf kreative Weise stärken möchte. Und sie trifft einen renommierten Soziologen, der einen ganz überraschenden Blick auf die Thematik hat und für mehr Gelassenheit plädiert.”
“Wenn dir keiner helfen kann, dann hilf dir selbst!”
An diesem Spruch ist was dran. Als ehemaliger Partner eines Borderliners suchte ich 2014 erfolglos Hilfe, um aus meinem Dilemma einer toxischen Beziehung rauszukommen. Oder wenigstens damit klarzukommen. Wie so viele andere auch war ich auf der Suche nach einem Trick, nach einem Heilmittel, damit alles wieder gut werden würde. Sobald ich Freunden und Fachleuten aus dem Nähkästchen erzählte, kam recht bald schon der Rat, ich solle mich trennen. Das war zwar als Lösung einleuchtend, aber genau das – eine Trennung – habe ich damals nicht geschafft.
So wollte ich einen anderen Weg probieren und recherchierte nach Selbsthilfegruppen für Borderline-Angehörige in Köln. Doch es gab nur ein regelmäßiges Selbsthilfetreffen für eine bestimmte Angehörigengruppe, der ich nicht angehöre.
Hilf dir selbst – das Motto habe ich umgesetzt und im Frühjahr 2014 die Selbsthilfe-Kontaktstelle Köln aufgesucht und mich beraten lassen. Nämlich, was nötig ist, um eine Selbsthilfegruppe zu gründen.
Seitdem trifft sich die Gruppe regelmäßig am 1. und 3. Dienstag im Monat. Weitere Informationen zur Gruppe und zum Thema Selbstschutz erfahrt ihr hier.
Die Erfahrung, mit seinem Problem nicht allein zu sein und der Austausch mit Menschen, denen es ebenso ergeht wie einem selbst (oder wenigstens so ähnlich), verschafft ein befreiendes Gefühl und Zuversicht. Die Gespräche im geschützten Raum der Gruppe machen Mut und helfen außerdem, den Selbstschutz als wichtiges Lebenstool für sich zu entdecken.
Ich zum Beispiel habe den Weg aus meinem Dilemma gefunden – durch Therapie, Selbstreflexion und Supervision. Ich habe gelernt, mich selbst zu erkennen, mich selbst zu schützen. Ohne dabei dem anderen zu schaden.
Dieses Wissen und diesen Erfahrungsschatz gebe ich gerne weiter und leite beratend seit nunmehr 6 Jahren die Sebsthilfegruppe für Borderline-Angehörige in Köln.
…sind nur drei Beispiele, mit denen Menschen in Deutschland tagtäglich attackiert werden. Drei sogar noch harmlose Beispiele, denn die Palette der Diskriminierung kann (leider) bis ins Unendliche und Unmenschliche weitergeführt werden.
Die einen verkraften die gemeinen Beschimpfungen, aber die anderen…die anderen werden von hässlichen Worten und Taten markiert. Werden im Innersten ihrer selbst getroffen – und traumatisiert.
Die Auseinandersetzung mit einem Trauma kann zu einer Lebensaufgabe werden. Doch wir alle können dazu beitragen, dieses traumatische Leiden zu reduzieren.
Denn hierzulande gilt das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland. Und da steht im Artikel 1:
(1) Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.
Und im Artikel 3 geht es weiter:
(1) Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich.
Diese Artikel und Paragraphen gelten heute auch noch, obwohl sie der breiten Bevölkerung anscheinend nicht mehr bekannt sind.
Und dann gibt es die Leute, denen die Artikel bekannt sind und die nicht wissen, wie sie diese umsetzen können. Denn es fehlt an Zivilcourage.
Im Moment erleben wir eine Zeit, die uns herausfordert, weil man (fast) gar nichts mehr planen kann. Jeden Tag gibt es neue Informationen, Regeln, Einschränkungen… aber auch Hilfen.
Ich musste mich auch ins Homeoffice zurückziehen. Was aber nicht heißt, dass Termine für Therapiesitzungen bzw. Erstgespräche nicht wahrgenommen werden können.
Um eine lückenlose Fortsetzung der Therapietermine zu garantieren biete ich Sitzungen via Skype oder Whatsapp an.
Corona bremst uns erheblich – doch bremst es uns nicht aus!
Das Wort Trauma löst in den meisten den Gedanken an ein brutales aber vorübergehendes Geschehen aus, das heftige Auswirkungen auf die Psyche eines Menschen hat. Doch wie steht es mit dem Trauma, das sich schleichend und selbst für den Betroffenen unmerklich in der Psyche installiert und das gesamte weitere Leben beeinträchtigt? Ausgelöst u.a. durch permanente Abwertung, Kritik, Liebesentzug und emotionale Erpressung. Verursacht durch den eigentlich wichtigsten Mensch im Leben eines Menschen: die Mutter!
„Über Mutterliebe keine Liebe“, sagt ein altes deutsches Sprichwort. Ein Spruch, der für viele unverständlich ist, weil sie nie erfahren haben, was Mutterliebe ist.
Foto: KK
In ihrem neuesten Buch „Narzissenkinder – Wenn Töchter unter narzisstischen Müttern leiden“ setzt sich Monika Celik mit narzisstischem Missbrauch in der Beziehung Mutter-Tochter auseinander. Wie entwickelt sich eine Tochter, die lernt, dass sie darum kämpfen muss, von ihrer Mutter geliebt zu werden? Und die diesen Kampf immer verliert. Egal, was sie macht. Stattdessen erfährt sie nur Abwertung und Kritik.
„Aus narzisstisch missbrauchten Kindern werden Erwachsene, die Angst haben, verlassen zu werden. Erwachsene, die sich wertlos fühlen, nicht wagen, nach ihren eigenen Vorstellungen zu leben, die ihre Bedürfnisse nicht erkennen und Angst haben, sich gegen Grundverletzungen zu wehren.“
Quelle: hipwee.com
„Narzissenkinder“ ist ein Buch, das behutsam an das Thema heranführt. Monika Celik beschreibt hier ihre ganz persönliche Geschichte als Tochter der Gattung „schwarzes Schaf“ einer Narzisse. Darüber hinaus gibt sie Erfahrungen anderer Narzissentöchter wieder. Sie behandelt jeden relevanten Punkt der toxischen Mutter-Tochter-Beziehung: Gaslighting, üble Nachrede, Wohlwollen und Missgunst, Grenzüberschreitung uvm.
Mit ihrer persönlichen Art zu schreiben und die Leserin / den Leser direkt mit „du“ anzusprechen, nimmt Monika Celik viel von den Triggermomenten, die theoretisch auf jeder Seite lauern. Die Autorin verliert sich nicht in wissenschaftlichen Thesen und Theorien, sondern berichtet von Situationen, die sie erlebt hat und die ihr von Betroffenen erzählt wurden. Wir Leser nehmen teil am Geschehen.
Celiks unverwechselbarer Schreibstil erweckt den Eindruck, dass sie einen persönlich anspricht. So als würde man mit ihr am Tisch sitzen und über den eigenen Missbrauch reden. Und das macht das Buch so besonders.
„Narzissenkinder“ ist ein Buch, das unverblümt die Sachlage erläutert und darüber aufklärt, was mütterlicher Narzissmus anrichtet. Die Mischung aus Biografie, Fallstudien und empathischen Worten und Erklärungen an den richtigen Stellen macht das Buch zu einer wertvollen Hilfe. Und es gibt Hoffnung, denn Monika Celik erklärt auch, wie man den narzisstischen Missbrauch überwinden kann.
Die Borderline Persönlichkeitsstörung (BPS) wird zwar schon lange erforscht und es wurden schon unzähige Bücher über das Thema geschrieben sowie viele sehr gute Therapieformen entwickelt, die bei der Behandlung von Borderline zu sehr guten Ergebnissen führen.
Und trotzdem ist die Forschung längst noch nicht am Ende. Und immer noch haben Betroffene, Angehörige und Fachleute etliche Fragen. Ein trialogischer Austausch ist daher unerläßlich.
Die Eckhard Busch Stiftung organisiert im Rahmen der 5. KölnBonner Woche für Seelische Gesundheit am 12.10. den 2. Borderlinetag. Ein Informationstag, der interessante Vorträge und Workshops bietet. Außerdem hat man die Gelegenheit, sich in ungezwungener Atmosphäre von Ärzten und Therapeuten beraten zu lassen.
Die Teilnahme am 2. Borderlinetag (12.10.19) ist kostenlos und bedarf keiner Anmeldung.
Wissenschaftliche Vortagung zum Borderline-Tag mit Otto Kernberg
Prof. Dr. Otto Kernberg, der weltweit renommierteste Forscher der Borderline-Persönlichkeit, bereitgefunden, im Rahmen dieser Vortagung beispielhaft sein Vorgehen in der strukturellen Diagnostik einer Jugendlichen zu demonstrieren und zu kommentieren, außerdem die Prinzipien in der Behandlung narzisstischer Persönlichkeiten vorzustellen.
Die Veranstaltung wird über die Psychotherapeutenkammer Nordrhein zertifiziert.
Kosten der Vortagung: Die Teilnahmegebühr beträgt 150.- Euro. Mitarbeiter der Uniklinik Köln, Ausbildungskandidaten und Praktikanten zahlen 100.- Euro.
Anita war ein liebes und fürsorgliches Mädchen, das stets auf der Suche nach ihrer Daseinsberechtigung war. Denn sie hatte immer das Gefühl, nicht dazuzugehören.
Nach
17 Ehejahren verliebt sich Anita unsterblich in die Liebe ihres
Lebens. Damit ist ihre Suche nach sich selbst beendet…oder doch
nicht? Denn ihr süßer Traum wird zu einem Albtraum.
Soweit der Klappentext von Anita Wix´ Autobiografie #jehebtaltijdeenkeuze# (#duhastimmereinewahl#), erschienen bei Droomvallei Uitgeverij.
Anita wurde aufgrund ihres Lebensmodells zum „Opfer“ eines Narzissten (im Buch nennt sie ihn Sem, um seine Identität nicht zu gefährden), mit dem sie elf Jahre lang verheiratet war. Was sie durchlebte, was ihre und seine Kinder durchlebten (Anita und Sem brachten jeweils 3 Kinder aus erster Ehe mit in die neue Familie) und wie sie es doch schaffte, sich zu befreien, erzählt sie offen in ihrem Buch.
Foto: Kai Kreutzfeldt
Es ist eines der Bücher, das man nur schwer beiseite legen kann. Es liest sich so, als ob Anita direkt zu einem sprechen würde. Man will wissen, wie es weitergeht, um zu verstehen, wie solch ein Familiendrama entstehen kann.
Gleichzeitig erklärt Anita an ihrem Beispiel auch, wie der Manipulationsprozess von Narzissten funktioniert. Und was die Partner erlebt haben müssen, um sich auf diese Manipulation einzulassen.
Viele
Partner von Narzissten stoßen auf Unverständnis in ihrem Umfeld,
wenn sich dieses der Brutalitäten gewahr wird.
„Warum
trennst du dich nicht einfach?“ ist die häufigst gestellte Frage.
Naja, weil „einfach“ nicht so einfach ist.
Das
Buch von Anita Wix ist keine Anklage, sondern eine Stimme für die
Opfer von häuslicher Gewalt, für Partner von Narzissten. Sie klärt
am Beispiel ihres Lebens auf, wie so ein Täter-Opfer-Mechanismus
entstehen kann (denn es gehören immer zwei Seiten dazu) und zeigt
auf, wie man sich aus dieser Maschinerie befreien kann.
Anitas Buch hat mich mehr als begeistert und ich wollte in einem Interview mehr von ihr erfahren. Darum habe ich sie in Arnheim getroffen.
Anita Wix und Kai Kreutzfeldt (Selfie)
Man muss Wert auf eine ehrliche Erzählung setzen
KK:
In deinem Buch #jehebtaltijdeenkeuze# (#duhastimmereinewahl#)
erzählst du deine Geschichte – eine 11-jährige Ehe mit einem
Narzissten – auf eine sehr persönliche Weise. Was hat dir das
Schreiben bedeutet?
AW:
Wenn du deine Geschichte aufschreibst, denkst du nochmal gut über
alles nach, was passiert ist. Auch hilft dir der Schreibprozess
dabei, selbst mehr Einsicht zu erlangen. Es war für mich also eine
Art der Verarbeitung von allen Dingen, die mir im Kopf herumspukten.
Als ich die aufs Papier setzte, wurde mir vieles deutlich. Während
des Schreibens wurde mir bewusst, was schon am Anfang der Beziehung
nicht stimmte.
KK:
Woher hast du den Mut genommen, auch über die intimen Aspekte von
Nähe und Gewalt zu schreiben?
AW:
Wenn man eine Einsicht in sein Leben geben will und auch darin, wie
es überhaupt soweit kommen konnte, dass man eine Beziehung mit
jemandem eingegangen ist, der Liebe als Machtmittel gebraucht, dann
muss man Wert auf eine ehrliche Erzählung setzen. Man muss zeigen,
wo man selbst die Grenzen überschritten hat.
Ansonsten
wäre es nur eine Schuldzuweisung an den anderen für das, was er
einem angetan hat. Man muss den Leser wissen lassen, was der eigene
Anteil in der Geschichte ist.
Und
wenn ich da nicht ehrlich bin, dann ist es keine Lebensgeschichte.
Und glaub mir, es gab noch schlimmere Dinge, die aber nicht im Buch
stehen.
Ich
habe ganz bewusst ausgesucht, worüber ich schreibe, denn meine
Kinder würden mein Buch ja auch lesen. Sie wussten bis dato nichts
vom Doppelleben ihrer Mutter von vor 20 Jahren. Aber jetzt wissen sie
Bescheid.
Und
es gibt niemanden, der mir sagte: „Wie schrecklich, was du damlas
getan hast“. Ganz im Gegenteil, ich habe Wertschätzung erfahren,
weil ich mein Leben heute im Griff habe.
KK:
Wie war die Reaktion deiner Kinder auf das Buch?
AW:
Während der Zeit meiner schlechten Beziehung habe ich meine älteste
Tochter sechs Jahre lang nicht gesehen. Erst wieder, als ich im
Frauenhaus war. Ich habe also sechs Jahre von ihrem Leben verpasst.
Vom Leben meines Mädchens zwischen 16 und 21 Jahren…
Doch
nachdem sie meine Geschichte gelesen hat, ist unsere Beziehung besser
denn je. Ich habe meinen Kindern zwar viel erzählt, aber das Buch
ist vollständiger. Ich habe es aus dem Herzen geschrieben und mit
denselben Gefühlen, wie ich sie damals hatte.
Heute
sagen meine Kinder, dass sie froh wegen meines Buches sind, denn
jetzt verstehen sie alles. Sie verstehen also, wie die Situation für
mich damals war. Sie dachten ja immer, dass ich soooo verliebt in
diesen Mann gewesen war. Doch nun haben sie gelesen, wie es wirklich
war. Es ist ihnen klar, dass ich mir darüber bewusst war, was ich
damals tat und dass das nicht gut war.
Für uns als Familie war das Buch das Schönste, was ich tun konnte. Es hätte nicht besser sein können.
Wenn ich nicht so offen geschrieben hätte, wäre das Bild nicht komplett
KK:
Deine Kinder wussten damals nicht, was los war?
AW:
Nun, Kinder haben eine andere Sichtweise von einer Situation. Aber,
wenn du ein Buch schreibst und darin mit deiner Geburt beginnst, dann
sehen sie, wie es zu alldem kommen konnte. Dass ich so eine Frau
geworden bin, die nur damit beschäftigt war, den Partner glücklich
zu machen.
Der
Prozess, der mich letztendlich dahin geführt hat, wo ich hin musste,
ist im Buch deutlich geworden. Und das habe ich ihnen so nie erzählen
können. Immerhin hat das Buch etwa 400 Seiten.
Wenn
du nur darüber sprichst, dann gehst du wahrscheinlich nicht so in
die Tiefe. Und was sagst du deinen Kindern, wenn du dich verletzlich
machst?
Und
dann schreibst du Dinge über dich auf, von denen du denkst, dass sie
eigentlich nicht so offen auf dem Tisch liegen sollten. Wenn ich das
nicht getan hätte, dann wäre das Bild nicht komplett. Und wenn ich
mich nicht schone, dann bin ich auch ehrlich mir selbst gegenüber;
nach dem Motto „sieh, was du getan hast!“.
Für
meine Kinder ist dieses Buch das größte Geschenk.
KK:
Was bedeutet dir das Buch heute?
AW:
Es ist eine Befreiung, denn ich kann endlich mal mein Leben erzählen
und muss nicht immer denken, dass ich Dinge getan habe, für die ich
mich schämen muss.
Was
ich getan habe, tat ich, weil ich damals dachte, dass es ok so wäre
und dass man sich für Dinge aus der Vergangenheit nicht schämen
müsste. Ich tat damals, was ich tun musste und ich habe heute daraus
gelernt.
Das
Buch hat auch dafür gesorgt, dass ich von meinen durch die Krankheit
(Narzissmus) verursachten Schuldgefühlen loskam. Punkt, aus.
Das ist Vergangenheit, das ist nicht die Gegenwart. Es ist vorbei! Und das war die Erleichterung.
Du wirst ein Opfer von Narzissten, wenn du nur damit beschäftigt bist, den anderen glücklich zu machen
KK:
Viele Menschen sind Opfer von Narzissten. Was sind deiner Meinung
nach die Funktionsmodelle, warum Menschen zu solchen Opfern werden?
AW:
Du wirst ein Opfer, wenn du jemand bist, der keine Grenzen setzen
kann. Der nichts festlegt und nicht genug tut, um sich
wertzuschätzen. Wenn du nur damit beschäftigt bist, den anderen
glücklich zu machen und das dann dein ganzes Leben ausmacht.
Wenn
du mit dir selbst zufrieden bist und jemand – in diesem Fall ein
Narzisst – so mit dir umgeht, dann wirst du dich nicht darauf
einlassen. Weil du so eine Behandlung nicht nötig hast, um dich
glücklich zu fühlen.
Ich
denke, dass Frauen und Männer, die narzisstische Partner anziehen,
einerseits ihre Bedürftigkeit ausstrahlen; andererseits, dass sie
selbst weder stark noch glücklich sind, denn sie setzen keinerlei
Grenzen.
Man
lässt sich gehen und gerät in den Bann des Narzissten. So ist der
Lauf der Dinge. Im Prinzip kann es jedem passieren.
Das
hat nichts mit Bildung oder sozialem Hintergrund zu tun. Es hängt
vielmehr davon ab, wie du selbst im Leben stehst. Egal, ob du nun ein
Richter bist oder jemand, der in der Fabrik arbeitet oder irgendwo
dazwischen – es kann jedem passieren.
Das
ist sehr wichtig hervorzuheben, denn viele denken immer noch, dass
man einem bestimmten Typus angehören muss, um sich einer
narzisstischen Beziehung zu unterwerfen.
KK:
Kannst du dich an das erste Erlebnis mit Sem erinnern, bei dem du
dachtest: „Das ist nicht normal. Ich erlebe ein Dilemma!“?
AW:
Ja, daran kann ich mich gut erinnern. Der allererste Moment, als ich
dachte, dass da wirklich etwas nicht stimmte, war, als mein Ex-Mann
damals seinen Sohn, der noch ein Baby war, fütterte. Das Kind war
ungefähr drei Monate alt und er fütterte es mit Karottenbrei.
Das
Kind kreischte vor Freude und spuckte daher einen ganzen Löffel
Karottenbrei im hohen Bogen auf Sems weißes Hemd.
Sem
rastete total aus, schrie herum und beschimpfte das Baby als Idiot
und Schlimmeres. Ich stand wie angewurzelt da und dachte: „Das ist
doch nicht normal!“
Ein
Baby für alles und noch viel mehr auszuschimpfen. Ich musste echt
dagegen halten, damit er dem Kind nichts antat.
Ich
finde, wenn so etwas passiert, zieht man sein Hemd aus, steckt es in
die Wäsche und zieht sich ein frisches an. Das ist normal.
Aber
ein Baby auszuschimpfen und böse zu werden, ich meine wirklich
böse…
Damals
dachte ich nur: „Du bist doch echt gestört!“
Es
war so deutlich und trotzdem hoffte ich noch, dass es nur ein
einmaliger Vorfall war. Aber bei so einem Verhalten, da muss man echt
auf der Hut sein. Das Betragen ist nicht normal und es wird sich auch
nie ändern.
Es
ist kein einmaliger Vorfall.
Nein,
das ist es nicht. Das ist so heftig und so extrem, wenn man ein Baby
ausschimpft, mit den Füßen stampft und böse wird. Auf ein Baby,
das doch nur tut, was Babys tun.
In solchen Situationen muss man schnell weggehen.
Du bleibst, um ihn glücklich zu machen
KK:
Wie konntest du es rechtfertigen, bei Sem zu bleiben?
AW:
Weil es typisch für alle Narzissten in einer Beziehung ist, dass sie
dich glauben machen, alles sei deine Schuld. Wenn etwas schiefgeht,
dann nur, weil du es nicht richtig gemacht hast. Und jedesmal denkst
du: „Wenn ich mein Bestes gebe, dann beschwert er/sie sich nicht
über mich“. Und deswegen bleibst du.
Aber
wenn du schon am Anfang der Beziehung davon überzeugt bist, dass der
Fehler nicht von dir kommt, sondern von dem/der anderen, dann
solltest du meines Erachtens nach viel früher aus der Beziehung
aussteigen.
Wenn
du die Anschuldigungen aber glaubst, dann fühlst du dich selber
wahrscheinlich nicht so wohl in deiner Haut. Sonst würdest du das
nicht mit dir machen lassen.
Ein
Beispiel: Als er vom Fahrrad gefallen war und ich noch nicht einmal
dabei gewesen war, habe ich trotzdem die Schuld zugewiesen bekommen,
als er wieder zu Hause war. Und ich dachte so bei mir: „Alles klar,
ich verstehe. Du machst es dir einfach.“
Aber,
was hätte ich machen können? Ich war nicht dabei gewesen und
trotzdem gab er mir die Schuld. Und ich sagte nur:“Sorry, ich
entschuldige mich dafür!“
Und
da rutscht man so rein, ganz langsam. Das kommt nicht von heute auf
morgen. Jedesmal nimmt man mehr Schuld auf sich und denkt: „Wenn
ich das nicht gesagt oder gemacht hätte, wäre das alles nicht
passiert.“ Und irgendwann habe auch ich daran geglaubt.
Deswegen
bin ich geblieben. Nämlich, um ihn glücklich zu machen.
KK:
Um es besser zu machen?
AW:
Klar, denn eigentlich dachte ich ja, dass ich mich um alles kümmern
musste, damit er es nicht zu tun brauchte. Ich dachte: „Es ist
meine Aufgabe, ihn zu versorgen, damit er glücklich wird“. Doch
das ist mir nicht gelungen. Es wird niemandem jemals gelingen.
Ich riss alle meine Grenzen nieder. Und tat mehr und immer mehr, um den anderen froh zu machen. Schließlich drehte sich mein ganzes Leben nur darum.
Du weisst doch, dass du mir glauben kannst
KK:
In deinem Buch erwähnst du oft, dass du deine Kinder nicht
beschützen konntest. Hast du eine Erklärung dafür, warum das
geschehen konnte? Wie kann es sein, dass eine Mutter wegen ihres
Partners die Bedürfnisse der eigenen Kinder nicht mehr sehen kann?
AW:
Lass es mich so sagen, dass bei uns zu Hause alles Mögliche geschah.
Er
hat meinen Kindern Dinge angetan, aber mir auch.
Wenn
ich misshandelt wurde, sagte ich meinen Kindern: „Sagt lieber
nichts. Macht ihm keinen Druck. Bleibt ruhig, sonst wird es noch
schlimmer.“
Und
wenn er mir nichts tat , sondern den Kindern und ich die Kinder
fragte, was denn geschehen sei, dann verharmlosten sie ihre
Erzählungen und sagten, die blauen Flecken kämen daher, dass sie
über einen Zaun geklettert oder mit dem Fahrrad gestürzt seien, nur
um mir nicht die Wahrheit zu sagen.
Was
ich dann mit meiner Familie tat, war, sie instand zu halten. Weil ich
es nicht schlimmer machen wollte. Ich wusste oft wirklich nicht, was
mit meinen Kindern geschehen war.
Bis
zu dem Zeitpunkt, als meine Tochter krank wurde. Anorexie. Nun konnte
niemand mehr sagen, dass es nur an mir läge. Zum ersten Mal kam
alles an die Oberfläche und jeder konnte sehen, was wir
durchmachten. Niemand konnte mehr sagen, dass es doch gar nicht so
schlimm sei. Denn Anorexie ist eine schwerwiegende Krankheit.
Und
trotzdem sagte Sem die ganze Zeit, dass da nichts war. Als wäre
nichts geschehen und – ich glaubte ihm das blindlings. Er sagte,
dass wir nichts damit zu tun hätten.
„Das
ist niemals geschehen. Ich verstehe nicht, dass du deinen Kindern
glaubst. Siehst du nicht, was sie vorhaben? Sie wollen uns
auseinanderbringen. Du hörst dir ihre Geschichten an, obwohl du
weisst, dass sie gelogen sind. Du weisst doch, dass du mir glauben
kannst. Ich würde so etwas doch niemals tun.“
Das
sagte er stets und das habe ich ihm dann geglaubt. Seine Worte waren
wichtiger, als das, was die eigenen Kinder sagten.
KK:
Und wurdest du nach dem Erscheinen deines Buches angegriffen bzw.
kritisiert, was den Nichtschutz deiner Kinder angeht?
AW:
Nein, nicht ein einziges Mal. Jeder sagte mir, dass ich alles so gut
beschrieben habe und man es daher nachvollziehen kann, wie es
abgelaufen ist.
Man
kann mein Verhalten nicht schönreden, aber es ist auch nicht mehr
rückgängig zu machen. Ich kann es nicht mehr ändern.
Letztendlich haben meine Kinder mir vergeben und wir haben nun wieder eine fantastische Beziehung miteinander.
Das Verlangen nach ihm sitzt überall
KK:
Wenn du ein Opfer von einem Narzissten bist, ist es nicht so leicht,
von ihm loszukommen. Was ist deiner Meinung nach der schwierigste
Teil, sich von jemandem zu lösen, der einem nicht guttut?
AW:
Es ist eine Abhängigkeit. Es ist eine Beziehungsabhängigkeit und
man ist süchtig nach dem Schmerz. Das hört sich verrückt an, aber
so ist es.
Wenn
jemand Alkoholiker ist und man ihm sagt, er solle das Trinken doch
lassen, dann wird er einem antworten, dass das nicht so leicht ist.
Dafür müsste er in eine Entziehungskur, dafür bräuchte er Hilfe.
Andere Menschen müssten ihm helfen, weil er abhängig sei.
Er
wird high und dann lässt die Wirkung nach und er braucht Nachschub.
Das Gleiche ist mit Drogen. Und mit einer toxischen Beziehung.
In
einer toxischen Beziehung ist man auch abhängig. Vom Schmerz, so
seltsam das auch klingt.
Als
ich im Frauenhaus war und es keine Streitereien mehr gab, war ich
todunglücklich. Ich dachte, dass ja gar nichts mehr passiert. Ich
machte es weder falsch, noch machte ich es richtig. Ich wusste nicht,
wie ich damit umgehen sollte. Es wurde mir immer deutlicher, dass ich
mich in einer Abhängigkeit befand.
Und
ich vermisste sie, die Streitereien. Und den Schmerz, der dann dafür
sorgt, dass ich mich später wieder gut fühle. Das ist es nämlich,
was er mit dir macht.
Ich
hatte Trauer und Schmerzen und Angst gehabt. Und das Verlangen nach
Freude und glücklichen Momenten. Und der Mann, der mitunter so lieb
war, band mich wie einen Junkie an die Beziehung und das machte es
unmöglich, loszulassen.
Es
ist scheinbar nicht so schwierig, Druck und Verlangen auszuhalten.
Aber versuch auf der anderen Seite mal, davon loszukommen! Das Verlangen sitzt überall. Es sitzt in deinen Fasern, in deinem Blut. Es wickelt dich hübsch ein und nimmt Besitz von deinem Körper.
In einer narzisstischen Beziehung verwechselt man Schmerz, Elend und Traurigkeit mit Liebe
KK:
Im Frauenhaus warst du in Sicherheit. Aber Sem war immer in deinem
Kopf, in deinen Gedanken. Wie hast du diese Momente erlebt?
AW:
Ich war an einem Punkt, dass ich mit dem Gedanken daran erwachte, was
ich nicht mehr hatte. Und das bedeutete natürlich das Ende meiner
Welt, das Ende meines Lebens.
Ich
war geflohen und hatte alles hinter mir gelassen: meine Kinder, meine
Stiefkinder, meine Sachen, mein Haus, mein Auto. Ich hatte nichts
mehr und saß da. Jeden Morgen erwachte ich mit dem Gedanken: „Ich
will zu ihm zurück“.
Auf
der rechten Schulter saß ein Engelchen und sagte: „Das darfst du
nie wieder tun“. Auf der anderen Seite ein Teufelchen, das mir
sagte: „Ja, geh zurück! Was ist dir denn geblieben? Nichts, aber
auch gar nichts!“
Das
ist so anstrengend. Und du sitzt da allein mit deinen Gedanken und
weisst nicht, was du tun sollst.
Also
musste ich mir selber sagen, wie ich mein neues Leben sah. Bloß
nicht daran denken, woher ich kam und was ich zurückgelassen hatte.
Ich dachte immerzu: „Ich kann nicht mehr ohne ihn leben. Ich weiss
nicht, was ich machen soll.“
Zwei
Jahre lang, auch ein Jahr nach dem Frauenhaus, dachte ich: „Ich geh
zu ihm zurück!“
Denn,
wenn er erstmal sieht, dass ich wieder eine starke Frau geworden bin
– ich dachte nämlich, dass ich das nicht sei, dass ich ein Nichts
war – dann gehe ich zu ihm zurück.
Und
es hat ganze zwei Jahre gedauert bis ich mir endlich sagte: „Nein,
zurück gehe ich niemals wieder!“
In
einer narzisstischen Beziehung verwechselt man den Schmerz und das
Elend und die Traurigkeit mit Liebe. Man denkt, dass das Liebe sei.
Man kriegt gar nicht mehr mit, dass das nicht wahr ist.
Denn Liebe bedeutet für einen, erst geschlagen und dann getröstet zu werden. Und dann denkt man, dass man alles gut gemacht hat.
Das Geburtsrecht eines jeden Menschen ist es, glücklich zu sein
KK:
Wie hast du es letztendlich geschafft, doch nicht zu Sem
zurückzugehen? Woher hattest du die Kraft?
AW:
Erst einmal dadurch, dass man mir das Telefon im Frauenhaus
abgenommen hat. Und dass ich dafür sorgen sollte, dass er keinen
Kontakt zu mir und ich keinen Kontakt zu ihm aufnehmen konnte. Denn
Narzissten sind Meister der Redekunst und wenn sie dich erst wieder
in ein Gespräch verwickelt haben, läufst du allerhöchste Gefahr zu
sagen: „Ja, du hast Recht. Ich komme zurück.“
Darum
versuchte ich, solange wie möglich, keinen Kontakt zu haben. Ich
habe auch viel gelesen in dieser Zeit. Ich las über Narzissmus und
langsam begriff ich, worum es ging. Jedesmal wenn ich dachte, dass
ich zu ihm zurück wollte, sagte ich mir, dass ich dann niemals das
Leben haben würde, das ich verdiene.
Das
Geburtsrecht eines jeden Menschen ist es, glücklich zu sein.
Glücklich würde ich bei ihm niemals sein. Denn weder kann ich ihn
glücklich machen noch er sich selbst.
In meinen Gedanken stellte ich mir ein Haus vor, das ich bewohnen wollte. Und eine Arbeit. Das waren Dinge, die ich visualisieren und mir zurecht basteln konnte, sodass ich mein ganzes neues Leben vor mir sah. Und das half.
Sieh nach vorne auf das, was du willst und nicht zurück, wo du hergekommen bist
KK:
Ist das eine Taktik, wie man dieser Hörigkeit entkommen kann?
AW:
Ja, so ist es. Ich begleite viele Frauen, die gerade aus dem
Frauenhaus kommen. Das Erste, was ich sie machen lasse, ist ein
Visionsbild: sie sollen kleben, schneiden, malen, zeichnen. Und zwar
alles, was sie in ihrer Vorstellung sehen und was sie sehen wollen.
Dann
frage ich: „Wie fühlst du dich dabei? Wenn du dich gerade leer
fühlst, wie soll die Zukunft sein? Was ist die Leidenschaft in
deinem Leben?“ Denn die hat jeder von uns.
Die
eine sagt dann: „Nun, ich kann gut tanzen.“ – „Dann tanze!“
Die
andere sagt: „Ich male gerne.“ – „Mach das, male! Tu, was dir
gefällt!“
Stelle
jeden Morgen, bevor du irgendetwas anderes machst, deine Füße auf
den Boden, zeige dich dankbar für den neuen Tag und sage laut, was
du vor dir siehst: Ein schönes Leben und eine schöne Zukunft. Oder,
wie du diesen Tag gestaltest. Wie planst du deinen Tag? Denk daran,
was du wirklich willst und nicht daran, was du nicht willst.
Das hilft. Das hilft jedem. Aber du musst es auch tun!
Foto: KK
Niemand hat gesagt, dass es leicht sein würde
KK:
Man muss es tun, das ist der Punkt.
AW:
Ja, es funktioniert nur, wenn du es tust! Konsequent, jeden Tag. So
schwer es auch erscheinen mag. Wenn du dich selbst gut fühlst, ist
es natürlich nicht so schwer zu sagen: danke für diesen neuen Tag.
Aber
wenn du dich schlecht fühlst und du den neuen Tag bestehen musst…
das ist die Kunst.
Etwas
zu fühlen, was nicht da ist. Darum geht es, aber auch das können
wir. Sicherlich kostet das Mühe, aber niemand hat gesagt, dass es
leicht sein würde.
Es
ist Training und ich bin ein Beispiel dafür, dass es funktioniert.
Ich sage jetzt nicht: „Wenn ich das kann, kannst du es auch“.
Vielmehr will ich den Menschen zeigen, dass es zu schaffen ist.
Ich
hatte auch Tage, an denen ich mir sagte: „Danke wofür? Ich habe
nichts mehr! Ich habe kein Haus, ich habe noch nicht mal Teelöffel.
Ich habe gar nichts. Wofür also soll ich dankbar sein?“
Trotzdem bin ich dankbar. Dafür, dass ich da bin und lebe und dass ich mich für das Leben entschieden habe. So lernt man immer mehr die Dankbarkeit. Dann bekommt man auch ein Haus. Und kann dafür dankbar sein. Dann kommen die Freunde und bringen Teelöffel und Decken, denn du hast ja nichts. Du hast gar nichts mehr. Und dann kommen ein Bett, ein Tisch, ein Stuhl und jedesmal mehr, wofür man dankbar ist.
Ich wollte ihm mitteilen, dass ich mit ihm fertig war
KK:
In deinem Buch ist ein langer Brief von dir an Sem abgedruckt. Darin
schreibst du ihm, wie du alles erlebt hast und was du von ihm denkst.
Warum hast du ihm noch so viel geschrieben?
AW:
Ich war damals noch im Frauenhaus und hatte viel über Narzissmus
gelesen. In dieser Zeit wurde es mir immer klarer, dass ich
eigentlich gar nichts machen kann. Dass es sich um ein Muster
handelt, das Männern und Frauen eigen ist, die wir Narzissten oder
Psychopathen nennen oder ihnen sonstwie unseren Stempel aufdrücken.
Aber
mehr und mehr verstand ich, was geschehen war und so wollte ich ihm
auch gerne mitteilen, dass ich damit fertig war und wusste, dass
nichts einfach „nur so“ geschehen war. Dass ich mir darüber im
Klaren war, wie er ganz bewusst versucht hat, mich kaputt zu machen.
Das
machen Narzissten. Damit nichts übrig bleibt.
Ich
habe gelernt, dass Narzissten das mutwillig tun. Das ist hart zu
schlucken. Denn da ich ja nicht so bin, konnte ich mir nicht
vorstellen, dass es einen Menschen gibt, der mir so etwas mutwillig
antun würde. Das war und ist schwer zu begreifen. Denn ich wollte
doch glücklich mit ihm zusammen leben, ich wollte es doch schön
haben. Warum wollte mich jemand schlagen, mir Schaden und Schmerzen
zufügen?
Als
ich dann ein bisschen mehr Boden unter den Füßen spürte, viele
Jahre später, und ich mehr verstanden hatte, war es mir ein
Bedürfnis, diesen Brief zu schreiben. Und das habe ich auch gemacht.
Es kam sogar eine E-Mail zurück, aber ich war im Frauenhaus und sie
ließen sie mich nicht lesen. Die Mail wurde ausgedruckt und in mein
Dossier geheftet, damit ich sie habe. Aber bis heute weiss ich nicht,
was er darauf geantwortet hat. Ich habe diese Mail nie gelesen.
KK:
Willst du es heute wissen, was er geantwortet hat?
AW: Nein. Jetzt nicht mehr. Ich wollte ihm nur schreiben, was ich noch zu sagen hatte. Und dass es mir nicht wichtig sei, wie er über alles dachte. Ich habe die Mail nie gelesen.
Viele Professionelle kennen häusliche Gewalt nur in der Theorie
KK:
Du gibst Workshops und Lesungen. Du unterrichtest Polizisten und
Sozialarbeiter im Bereich der häuslichen Gewalt. Sind diese Menschen
nicht ausreichend geschult?
AW:
Sie sind theoretisch geschult. Aber nicht praktisch. Sie kennen zwar
die Theorien der häuslichen Gewalt, doch sind sie sich oft nicht der
Emotionen bewusst, die dahinter stecken.
Ich
beginne meine Lesungen stets mit der Hoffnung, dass sie nicht nur
hören, sondern besser noch spüren, womit sie es zu tun haben. Wenn
ich die Menschen in mein Leben mitnehme – und das tue ich – dann
werden sie fühlen, wie es für jemanden ist, der ein Opfer
häuslicher Gewalt ist. Ich selbst sehe mich zwar nicht als „Opfer“,
aber lass uns mal diesen Begriff gebrauchen.
Vieles
wird den Professionellen schnell klar, wenn sie wahrnehmen, wie sich
ein Opfer in einer solchen Situation fühlt. Und auch, dass es um
psychischen Terror geht.
Ein
Beispiel:
Ich
frage meinen narzisstischen Mann: „Darf ich bitte am Freitagabend
mit meiner Freundin ausgehen?“
Und
er antwortet: „Warum fragst du so? Natürlich kannst du!“
Ich
denke dann: „Naja, aber sonst darf ich nicht.“
Und
plötzlich ist Freitag und meine Freundin kommt, um mich abzuholen.
Da sagt er plötzlich: „Wohin gehst du?“
Ich:
„Ich habe dich doch gefragt.“
Er:
„Du hast ich gar nichts gefragt. Wie kommst du darauf? Das ist doch
nur in deinem Kopf passiert.“
Über
solcher Szenen sind sich viele Polizisten nicht bewusst. Sie denken
bei häuslicher Gewalt nur ans Schlagen.
Wenn
du geschlagen wirst, dann rufst du die Polizei und bist voller blauer
Flecken. Das ist eindeutig.
Aber
wenn diese subtile Gewalt geschieht – man nennt das gaslighting,
wenn jemand leugnet, was er selbst gesagt hat – wie willst du das
den Polizisten klarmachen?
„Also
Herr Polizist, ich habe meinen Mann gefragt, ob ich ausgehen kann, er
hat ja gesagt, aber nun darf ich doch nicht.“
Da
denkt doch jeder: „Naja, so schlimm ist es jetzt auch
nicht.“
Durch
das Beispiel, das ich in meinen Lesungen gebe, wird es doch
begreiflich, warum es für Frauen so schwierig ist, dem Polizisten an
der Tür zu sagen, was wirklich passiert ist. Er kann es meistens ja
nicht deuten.
Was
ich also mache, ist, Theorie und Praxis zu verbinden. Oftmals
bekommen die Teilnehmer meiner Workshops eine Idee vom Modell der
Spirale häuslicher Gewalt.
Sie beherrschen bereits die Theorie und dann komme ich, um die Praxis vorzustellen. Dann wird alles viel deutlicher.
Polizisten spüren etwas, aber wissen nicht, dass es sehr wichtig ist, die Opfer aus der Situation zu holen
KK:
Was sind die Anzeichen von häuslicher Gewalt?
AW:
Eine typische Situation ist es, wenn der Polizist an die Tür kommt
und du ihm als Opfer die Tür öffnen und ihm sagen musst, dass
nichts passiert ist. Denn der Mann steht versteckt dahinter und hört
alles mit.
Ich
glaube, dass die Polizisten auf jeden Fall spüren, dass etwas nicht
in Ordnung ist. Sie wissen aber nicht, wie wichtig es ist, das Opfer
aus dieser Situation herauszunehmen.
Ein
besseres Beispiel: Stell dir vor, du bist verwundet und musst ins
Krankenhaus. Du bist so sehr verwundet, dass du zur Notaufnahme
musst. Während der Fahrt sagt dir der Täter mit drohender Stimme:
„Erzähl ruhig, was passiert ist. Dann bist du am Ende und ich
werde eingesperrt. Und sie nehmen uns die Kinder weg.“
Dann
kommst du im Krankenhaus an und der Arzt fragt dich: „Was ist denn
genau passiert?“
Was
machst du als Opfer von häuslicher Gewalt? Bevor du antwortest,
schaust du rüber zu deinem Partner und er zu dir und es geht hin und
her mit den Blicken. Das ist ein Signal.
Denn,
wenn einfach so etwas passiert ist, dann sagst du dem Arzt ohne
Umschweife, was passiert ist. Dann bittest du nicht erst den Partner
mit Blicken um Rederlaubnis, sondern sprichst mit dem Arzt und siehst
ihn dabei an.
Auffällig
ist auch, wenn man sich die Rippen bricht, weil man die Treppe
heruntergefallen ist. Denn in diesem Fall wäre auch der Rücken
verletzt. Wenn dem nicht so ist, sind die Rippenbrüche nicht
logisch. Schaut der Verletzte vor dem Notarzt dann noch den Partner
an mit der Frage im Blick: „Habe ich alles richtig gesagt?“…
Das sind die Signale.
Ich bin für dich da
KK:
Was können wir tun als Nachbarn, Freunde, Kollegen, wenn wir
häusliche Gewalt vermuten?
AW:
Etwas zu tun ist das Schwerste. Denn wenn jemand was auch immer
bemerkt, will er nicht damit behelligt werden. Es geschieht ja bei
den Nachbarn, das geht mich nichts an.
Jedem
Menschen, der Opfer von häuslicher Gewalt ist, hilft es, wenn man
ihn wissen lässt, dass man für ihn da ist.
Man
sollte ihn niemals fragen: „Wirst du geschlagen?“ Damit erreicht
man nichts, denn das Opfer wird antworten: „Nein, wieso?“
Wenn du also jemanden kennst, der das durchmacht, dann kannst du der Person die Hand auf die Schulter legen und sagen, dass du jederzeit für sie da bist. Wenn sie dich braucht, kann sie jederzeit kommen. Das sind Angebote. Und es braucht viele Angebote, die ein Opfer hören muss, bevor es sie annehmen kann.
Normalerweise
hören Opfer die Fragen: „Warum gehst du nicht? Warum lässt du das
zu? Warum lässt du dich schlagen?“ So etwas will man nicht hören.
In
dieser Situation braucht man Menschen, die einen verbal und
nonvervbal wissen lassen, dass man jederzeit zu ihnen kommen kann.
Und der Moment wird kommen, dass man dazu bereit ist. Das kann ein
Jahr dauern. Oder leider auch 30 Jahre. Wichtig ist zu wissen, dass
man jederzeit zu jemandem gehen kann. Zu jemandem, der das Geschehene
eventuell gesehen, aber auf jeden Fall gesagt hat, vielleicht auch
ohne Worte. Und das Angebot muss man immer aufrecht erhalten.
Wenn
du wirklich das Gefühl hast, dass bei deinen Nachbarn etwas nicht
stimmt, zögere nicht, sondern ruf die Polizei. Aber das traut man
sich ja meistens nicht, weil es bei den Nachbarn geschieht…
Mein
großer Tipp an alle Freunde, Familien, Bekannten und Kollegen: Sag,
dass du denjenigen siehst und dass du immer an seiner Seite bist.
Ich bin genug
KK:
Was können wir tun als Nachbarn, Freunde, Kollegen, wenn wir
häusliche Gewalt vermuten?
AW:
Etwas zu tun ist das Schwerste. Denn wenn jemand was auch immer
bemerkt, will er nicht damit behelligt werden. Es geschieht ja bei
den Nachbarn, das geht mich nichts an.
Jedem
Menschen, der Opfer von häuslicher Gewalt ist, hilft es, wenn man
ihn wissen lässt, dass man für ihn da ist.
Man
sollte ihn niemals fragen: „Wirst du geschlagen?“ Damit erreicht
man nichts, denn das Opfer wird antworten: „Nein, wieso?“
Wenn
du also jemanden kennst, der das durchmacht – und du weisst das –
denn wir haben alle unser Bauchgefühl – dann kannst du der Person
die Hand auf die Schulter legen und sagen, dass du jederzeit für sie
da bist. Wenn sie dich braucht, kann sie jederzeit kommen. Das sind
Angebote. Und es braucht viele Angebote, die ein Opfer hören muss,
bevor es sie annehmen kann.
Normalerweise
hören Opfer die Fragen: „Warum gehst du nicht? Warum lässt du das
zu? Warum lässt du dich schlagen?“ So etwas will man nicht hören.
In dieser Situation braucht man Menschen, die einen verbal und nonvervbal wissen lassen, dass man jederzeit zu ihnen kommen kann. Und der Moment wird kommen, dass man dazu bereit ist. Das kann ein Jahr dauern. Oder leider auch 30 Jahre. Wichtig ist zu wissen, dass man jederzeit zu jemandem gehen kann. Zu jemandem, der das Geschehene eventuell gesehen, aber auf jeden Fall gesagt hat, vielleicht auch ohne Worte. Und das Angebot muss man immer aufrecht erhalten.
Wenn
du wirklich das Gefühl hast, dass bei deinen Nachbarn etwas nicht
stimmt, zögere nicht, sondern ruf die Polizei. Aber das traut man
sich ja meistens nicht, weil es bei den Nachbarn geschieht…
Mein
großer Tipp an alle Freunde, Familien, Bekannten und Kollegen: Sag,
dass du denjenigen siehst und dass du immer an seiner Seite bist.
Foto: KK
„Ich bin genug“
Es sind gerade mal drei Wörter, die im Leben wichtig sind.
Eine
Frau verschwindet von einer Sekunde auf die andere. Niemand weiss, in
welche Richtung sie gegangen ist. Oder ob sie alleine war.
Manche Frauen werden vermisst und gesucht. Die Polizei fahndet und bittet um Mithilfe bei der Suche. Andere wiederum werden noch nicht einmal als vermisst gemeldet. Viele bleiben für immer verschwunden und vielleicht wird man niemals wissen, ob sie noch leben oder schon längst tot sind.
Aber glücklicherweise tauchen ein paar Frauen wieder auf. Sie haben überlebt. Natascha Kampusch und Elisabeth Fritzl sind nur zwei Namen, die stellvertretend für viele stehen. Was sie überlebt haben, erzählen sie: in Polizeiberichten, Autobiografien, Interviews, Therapiesitzungen. Sie erzählen ihre Geschichte, berichten von ihrem Leben in der Hölle und wie sie trotz all dem Grauen überlebt haben.
Die Hölle ist bei fast allen Gefangenschaft, Folter, körperliche und psychische Misshandlung und tägliche brutale Vergewaltigung.
Viele Vergewaltigungen haben Schwangerschaften und Geburten zur Folge. Oder Fehlgeburten. Die Kinder dieser Sexualverbrechen werden von den Tätern entweder ausgesetzt, getötet oder verkauft. Die physische und psychische Gesundheit der Mutter wird nicht weiter beachtet.
Von manchen Opfern dieser horrenden Verbrechen erfahren wir, wie es ihnen heute geht.
Man kann davon ausgehen, dass alle Überlebende versuchen, sich wieder ein würdiges Leben aufzubauen. Doch ein normales, sorgloses Leben werden sie nie wieder haben. Posttraumatischer Stress, Albträume, physischer Verfall uvm. werden sie ihr Leben lang begleiten.
Das ist auch der Fall von Anna Ruston. Als 15-Jährige wurde die Engländerin in eine Falle gelockt und 13 Jahre als Sexsklavin gefangen gehalten. Von einer gesamten Familie. Während dieser Zeit brachte sie vier Kinder zur Welt, von denen sie keines behalten durfte. Alle wurden verkauft.
Ihr Buch „Secret Slave“ (noch nicht ins Deutsche übersetzt) erschien 2017. Für Anna war das Schreiben des Buches mit Hilfe von Jacquie Buttriss eine Therapie und ein Weg, ihr Grauen in Worte zu fassen.
Ich habe das Buch gelesen und muss sagen, dass es für mich die schwerste Lektüre überhaupt war. Das Buch hat gerade mal etwas mehr als 300 Seiten. Ich habe einen Monat gebraucht, es zu lesen. Bei jedem Kapitel wurde es mir schwerer, die Seiten umzublättern, je mehr Einblick ich in Annas Horror bekam. Ihre Depression und ihre Schmerzen wurden spürbar. Die seelischen Torturen, denen sie ausgesetzt war, waren fast unerträglich zu lesen.
Wer das Buch lesen will, muss sich auf Einiges gefasst machen, denn die Erzählungen sind schonungslos. Trotzdem bringen sie nur einen Bruchteil dessen rüber, was Anna erlebt hat.
In der Presse wurde der Wahrheitsgehalt des Buches von Anna Ruston kritisiert. Man sagt, die Geschichte habe ihre Inspiration am Schicksal der Elisabeth Fritzl gefunden und an den Tatsachen, dass in den frühen 2000er Jahren in London mehrere Fälle von sexuellem Missbrauch und Pädophilie durch pakistanische Bürger/Clans/Familien aufgedeckt, aber nie wirklich publik gemacht und strafrechtlich verfolgt wurden. Die Behörden hatten Angst, als rassistisch abgestempelt zu werden.
Natürlich kann ich die Geschichte von Anna nicht bestätigen, weil ich Anna nicht kenne. Aber, warum sollte ich daran zweifeln?
Entführungen und sexuelle Gewalt, wie Anna sie beschreibt und wie auch Natascha Kampusch und Elisabeth Fritzl sie durchlitten haben, geschehen öfter, als man denkt.
Wer sind die Täter?
Normalerweise der nette Nachbar von nebenan.
Wo geschieht so etwas Schreckliches?
Bestimmt nicht in der einsamen Hütte im Wald. Oder im Verlies eines seit Jahrzehnten verlassenen Krankenhauses. Das sind Szenarien, wie sie in Horrorfilmen gerne genutzt werden.
Der Tatort ist oftmals das Haus, an dem man täglich vorbeifährt. Wo der Garten tadellos aussieht und vielleicht auch Kinder dort spielen.
Leider sind sich viele Menschen nicht der Macht der Manipulation bewusst. Viele können sich nicht vorstellen, dass Täter manchmal ein sehr leichtes Spiel haben, ihre Opfer zu überwältigen.
Die meisten wissen nicht, wie Psychoterror funktioniert.
Und leider wissen auch viele Mitarbeiter der Polizei, der Krankenhäuser und Pflegedienste nicht, die Signale häuslicher Gewalt zu verstehen. Deshalb können sie auch keine Hilfe anbieten. Und wie oft werden Täter auch durch die Gesetze geschützt und können sich dann ungehindert weiter an ihrem Opfer vergreifen?
Die oben erwähnten Fälle von jahrelanger brutaler Gefangenschaft werden erst in der Presse breitgetreten. Bis sich niemand mehr dafür interessiert.
Das wird auch immer so sein.
Deshalb
ist es umso wichtiger, Geschichten wie die von Anna Ruston zu kennen
und die Augen nicht zu verschließen.
Im Jahr 2018 stieß ich bei YouTube auf ein Video über den Fall Michael Perez. Zehn Jahre zuvor wurde der damals 26jährige Mann von einem Richter zu einem geschlossenen Klinikaufenthalt verurteilt, weil er während eines Streits mit seinem Vermieter die Kontrolle verlor und diesem ein blaues Auge schlug.
Das ist zugegeben keine Lösung. Aber erst recht kein Argument dafür, dass ein Gutachter ihn als gemein- und fremdgefährlich einstuft und daher für die geschlossene Psychiatrie plädiert.
Die Klinik Nette-Gut für Forensische Psychiatrie an der Rhein-Mosel-Fachklinik Andernach wird dann Michaels Gefängnis. Die Klinik gleicht von außen einer Strafanstalt und drinnen wird Michael eher wie ein Strafgefangener, denn als ein Patient behandelt. Diese grausame, foltergleiche Behandlung hinterlässt ihre Spuren bei Michael.
Michael Perez 2018 (li) und 2006 (re) Quelle: SWR
Da er merkt, dass ihm die verabreichten Medikamente nicht guttun, möchte er sie nicht mehr einnehmen. Daraufhin wird er in Isolierungshaft gesperrt. Er verbleibt die nächsten 10 Jahre allein in einem Raum ohne Fernsehen, Radio, Bücher etc. Manchmal wird ihm eine Stunde Hofgang mit Hand- und Fußfesseln gewährt. Ab und an darf er Besuch empfangen. Mir kommen bei solch einer Beschreibung Bilder von fiktiven Personen wie Hannibal Lecter aus dem Film “Das Schweigen der Lämmer” in den Sinn.
Wir erinnern uns: Michael schlug seinem Vermieter ein blaues Auge! Wie oft geschieht das an jedem Wochenende in zig deutschen Kneipen und auf dem Kirmesplatz?
Seine jüngste Schwester Bianka kann und will diese Situation nicht hinnehmen. Sie entscheidet sich, für die Freilassung ihres Bruders zu kämpfen. Bald schon merkt sie, dass dieser Kampf ihr Einiges abverlangt: Behörden, die sich stur stellen und Menschen pauschal nach Paragraphen abfertigen; Nachbarn, die Michael gerne lebenslänglich weggesperrt wissen wollen, zerstörte Hoffnungen, tiefe Enttäuschungen.
Bianka Perez Quelle: xing.com
Sie gerät an ihre Grenzen und überwindet sich selbst unzählige Male. Gibt nicht auf. Sucht nach Wegen und Personen, die ihr in diesem Kampf gegen menschenunwürdige Ungerechtigkeit helfen können.
Und sie findet sowohl Wege als auch Personen. Der Verleger Olaf Junge vom underDog-Verlag lädt sie ein, ein Buch zu schreiben. Das hat sie auch getan. In ihrem Werk “Die schwarze Liste” erzählt sie die ganze Geschichte. Offen und ehrlich. Veröffentlicht Biografisches, Gutachten, Korrespondenzen und Auszüge der Patientenakte. Dabei ist sie stets bedacht, den Verantwortlichen nicht zu schaden, sondern sich für die Freilassung ihres Bruders einzusetzen.
Foto: Kai Kreutzfeldt
Biankas Kampf dauert zehn Jahre. Ein paar Dokumentarfilme wurden vom SWR gedreht und veröffentlicht. Authentische Bekanntmachung ist wichtig. Der Kampf hat sich gelohnt, denn seit letztem Jahr ist Michael wieder frei. Und diese Befreiung fühlt sich eher wie eine Entlassung aus dem zu Unrecht abgesessenen Strafvollzug an, als das Ende eines Klinikaufenthalts.
Das Erste, was Michael draußen wollte, war ein Döner.
Mich beeindruckt zutiefst der Mut von Bianka, sich den Autoritäten zu stellen, nicht aufzugeben und jedes Risiko auf sich zu nehmen, um ihren Bruder zu befreien! Heute beglückwünsche ich sie zu ihrem Mut, ihrem Durchhaltevermögen und ihrem festen Glauben an die Gerechtigkeit!