Münchhausen-by-proxy: Eine oft übersehene Kindesmisshandlung
Ihre Mutter machte Nina Blom 14 Jahre lang physisch und psychisch krank.

“Man braucht nur ein wenig Fantasie und alle Schlösser öffnen sich.”
(Hieronymus Carl Friedrich Freiherr von Münchhausen)
Ich bin im Zoom-Room und warte auf Nina Blom. Es gibt ein Zucken auf der schwarzen Leinwand und ich sehe, wie sich Nina einloggt. Eine Audioverbindung muss noch hergestellt werden und dann höre ich ein freundliches “Goedemorgen”. Vor mir sitzt Nina Blom, leider nur virtuell, deren Biografie ich vor kurzem gelesen habe. Ich kenne viele Seiten ihres Lebens, sie kennt mich überhaupt nicht. Meine Website ist auf Deutsch, was sie nicht versteht. Sie weiß nur, dass ich Heilpraktiker für Psychotherapie bin und sie für eine Lesung, am liebsten nach Köln, einladen möchte. Ihr freundlicher Blick und ihr offenes Lächeln schaffen sofort eine herzliche Atmosphäre.
Wir winken beide lächelnd in die Kamera und beginnen unser Gespräch. Natürlich hatten wir vorher ein paar Mal Kontakt auf LinkedIn und per E-Mail. Ich hatte mich vorgestellt und gesagt, warum ich mit ihr sprechen möchte.
Nina ist eine Überlebende ihrer Mutter, die am Münchhausen-by-Proxy-Syndrom litt. Eine subtile Art der Kindesmisshandlung, die anscheinend wegen ihres verharmlosenden Namens nicht so viel Aufmerksamkeit bekommt, wie sie sollte. Ich bin in den 1970er Jahren aufgewachsen und kenne den Baron von Münchhausen aus Märchen. Ein netter Mann, der sich Abenteuer ausdenkt, die er erlebt haben will und damit in der Gesellschaft mächtig für Aufmerksamkeit und Bewunderung sorgt. Und genau das wollte er: Bewunderung und Aufmerksamkeit. Doch da er selbst nicht Grund genug dafür war, erfand er abenteuerliche Geschichten und gewann so Gehör. Alles ganz harmlos und niemand kommt zu Schaden, wer seine Geschichten hört.
Ninas Mutter machte es fast genauso. Doch erfand sie keine Abenteuer, um Aufmerksamkeit zu erfahren, sondern sie erfand Krankheiten, die Nina nie hatte, redete sie ihr ein und zwang sie, den Ärzten Symptome vorzuspielen. Bloß nicht der Mutter widersprechen, denn diese wollte sich vor dem Arzt nicht blamieren!
Wie Münchhausen wollte auch Ninas Mutter Aufmerksamkeit und Bewunderung. Doch benutzte sie ihre Tochter dazu, indem sie sie krank machte und ihr jede Lebenskraft absprach. Bis diese tatsächlich eines Tages immer mehr verschwand.

Foto: Facebookseite von Nina Blom
“Sag dem Doktor, dass du Schmerzen hast. Ich will mich nicht blamieren! Hörst du, was ich sage?”
Die Misshandlungen durch die Mutter begannen, als Nina erst ein paar Monate alt war. Das hat sie recherchieren können. Sie erinnert sich daran, dass ihre Mutter sie als kleines Kind besorgt ansah und sagte: “Du bist krank!”. Nina wurde in der Schule krankgemeldet, ihr wurden irgendwelche Medikamente verabreicht und Schmerzen in Armen und Beinen eingeredet. Diese musste sie als Kind den Ärzten immer wieder bestätigen, denn vorher wurde sie von ihrer Mutter gebrieft: “Sag dem Doktor, dass du Schmerzen hast. Ich will mich nicht blamieren! Hörst du, was ich sage?”
Irgendwann holte die Mutter Nina von der Schule ab und hatte die Lösung für Ninas vermeintliche Probleme. Zu Hause angekommen wickelte sie Ninas Arme in festgeschnürte Verbände. Ohne jeden medizinischen Grund. Von da an durfte Nina nicht mehr in die Schule gehen, ihre beste Freundin nicht mehr treffen und landete irgendwann im Rollstuhl.
Bis zu ihrem 14. Lebensjahr hatte Nina 16 Krankenhausaufnahmen und ging sogar auf eine Schule für körperbehinderte Kinder. Ihr Körper war aber völlig gesund und funktionsfähig. Doch durfte er nicht so fungieren, wie er sollte und verkümmerte. Als Jugendliche musste Nina ihre Körperfunktionen wieder kennenlernen und trainieren.
Der Kinderarzt als Retter
Es ist fast nicht zu glauben, aber als scheinbar überaus fürsorgliche und besorgte Mütter schaffen es Münchhausen-Mütter immer wieder, die Fachleute davon zu überzeugen, dass ihre Kinder schwer krank sind. Sobald ein Arzt Zweifel an der vermeintlichen Krankheit anmeldet, wird ein neuer Arzt gesucht. Das war bei Nina nicht anders. Nur weil ihr damaliger Kinderarzt so aufmerksam war, ihre Patientenakten genau las und die richtigen Schritte einleitete – nämlich Nina aus dem Elternhaus zu entfernen – konnte sie überleben. Zu der Zeit hieß es, dass sie keine Überlebenschancen hätte, was die Eltern einfach so hinnahmen, anstatt um das Überleben ihrer Tochter zu kämpfen.
Nina kam in Obhut und überlebte. Zum Glück.
Münchhausen-by-proxy ist kein Märchen

Der nette Name Münchhausen-Syndrom steht für eine schwere Form der Kindesmisshandlung. Diese wird oft übersehen, da die Kinder keine Beulen oder Hämatome aufweisen, wie es bei “üblichen” Misshandlungen der Fall ist. Es sind meistens die Mütter selbst, die ihre Kinder zum Arzt oder ins Krankenhaus bringen; den Kindern unter Strafandrohung einbläuen, die Krankheiten bzw. Schmerzen zu bestätigen (wenn niemand zugegen ist) und sich vor den Medizinern als höchst besorgt darstellen. Wer würde einer solchen Mutter eine Misshandlung unterstellen?
Das macht es so schwer, die Misshandlung von echter Fürsorge zu unterscheiden. Hierbei ist es unter anderem lebensrettend, die Patientenakte des Kindes genau zu studieren, das Kind von der Mutter getrennt zu befragen und bei abwehrendem Verhalten des Kindes bzw. seiner ausgeprägten Loyalität zur Mutter besonders aufmerksam zu sein.
Hinweis: Es sind meistens die Mütter, die am Münchhausen-by-proxy-Syndrom leiden. Selten die Väter. Diese sind eher abwesend, haben kaum eine Beziehung zum Kind und unterstützen ihre Frauen, ohne irgendetwas zu hinterfragen.
Die Lesung “Du bist ein schreckliches Kind!”
Nina und ich haben fast eine Stunde per Zoom gesprochen. Sie hat mir erzählt, wie sie in den Niederlanden ihre Lesungen an Universitäten und Instituten für psychische Gesundheit hält. Meistens kommt sie gar nicht dazu, aus ihrem Buch zu lesen, da ihre Informationen vorab schon so viel Grundlage zur Diskussion bieten. So ist es ihr auch lieber, denn sie möchte mit dem Publikum in Kontakt treten. Fragen beantworten, ihre Erfahrungen spontan teilen. Der Austausch und die Aufklärung sind ihr wichtig. Das Buch kann man dann zu Hause lesen, auf Niederländisch oder Englisch.
Ich habe Nina eingeladen, im nächsten Jahr eine Lesung über das Münchhausen-by-proxy-Syndrom basierend auf ihrer Lebensgeschichte in Deutschland zu geben. Wo und wann werde ich noch bekanntgeben.
Nina ist eine Überlebende. Zum Glück! Und so viele andere können es auch sein!