Eine Frau verschwindet von einer Sekunde auf die andere. Niemand weiss, in welche Richtung sie gegangen ist. Oder ob sie alleine war.
Manche Frauen werden vermisst und gesucht. Die Polizei fahndet und bittet um Mithilfe bei der Suche. Andere wiederum werden noch nicht einmal als vermisst gemeldet. Viele bleiben für immer verschwunden und vielleicht wird man niemals wissen, ob sie noch leben oder schon längst tot sind.
Aber glücklicherweise tauchen ein paar Frauen wieder auf. Sie haben überlebt. Natascha Kampusch und Elisabeth Fritzl sind nur zwei Namen, die stellvertretend für viele stehen. Was sie überlebt haben, erzählen sie: in Polizeiberichten, Autobiografien, Interviews, Therapiesitzungen. Sie erzählen ihre Geschichte, berichten von ihrem Leben in der Hölle und wie sie trotz all dem Grauen überlebt haben.
Die Hölle ist bei fast allen Gefangenschaft, Folter, körperliche und psychische Misshandlung und tägliche brutale Vergewaltigung.
Viele Vergewaltigungen haben Schwangerschaften und Geburten zur Folge. Oder Fehlgeburten. Die Kinder dieser Sexualverbrechen werden von den Tätern entweder ausgesetzt, getötet oder verkauft. Die physische und psychische Gesundheit der Mutter wird nicht weiter beachtet.
Von manchen Opfern dieser horrenden Verbrechen erfahren wir, wie es ihnen heute geht.
Man kann davon ausgehen, dass alle Überlebende versuchen, sich wieder ein würdiges Leben aufzubauen. Doch ein normales, sorgloses Leben werden sie nie wieder haben. Posttraumatischer Stress, Albträume, physischer Verfall uvm. werden sie ihr Leben lang begleiten.

Das ist auch der Fall von Anna Ruston. Als 15-Jährige wurde die Engländerin in eine Falle gelockt und 13 Jahre als Sexsklavin gefangen gehalten. Von einer gesamten Familie. Während dieser Zeit brachte sie vier Kinder zur Welt, von denen sie keines behalten durfte. Alle wurden verkauft.
Ihr Buch „Secret Slave“ (noch nicht ins Deutsche übersetzt) erschien 2017. Für Anna war das Schreiben des Buches mit Hilfe von Jacquie Buttriss eine Therapie und ein Weg, ihr Grauen in Worte zu fassen.
Ich habe das Buch gelesen und muss sagen, dass es für mich die schwerste Lektüre überhaupt war. Das Buch hat gerade mal etwas mehr als 300 Seiten. Ich habe einen Monat gebraucht, es zu lesen. Bei jedem Kapitel wurde es mir schwerer, die Seiten umzublättern, je mehr Einblick ich in Annas Horror bekam. Ihre Depression und ihre Schmerzen wurden spürbar. Die seelischen Torturen, denen sie ausgesetzt war, waren fast unerträglich zu lesen.
Wer das Buch lesen will, muss sich auf Einiges gefasst machen, denn die Erzählungen sind schonungslos. Trotzdem bringen sie nur einen Bruchteil dessen rüber, was Anna erlebt hat.
In der Presse wurde der Wahrheitsgehalt des Buches von Anna Ruston kritisiert. Man sagt, die Geschichte habe ihre Inspiration am Schicksal der Elisabeth Fritzl gefunden und an den Tatsachen, dass in den frühen 2000er Jahren in London mehrere Fälle von sexuellem Missbrauch und Pädophilie durch pakistanische Bürger/Clans/Familien aufgedeckt, aber nie wirklich publik gemacht und strafrechtlich verfolgt wurden. Die Behörden hatten Angst, als rassistisch abgestempelt zu werden.
Natürlich kann ich die Geschichte von Anna nicht bestätigen, weil ich Anna nicht kenne. Aber, warum sollte ich daran zweifeln?
Entführungen und sexuelle Gewalt, wie Anna sie beschreibt und wie auch Natascha Kampusch und Elisabeth Fritzl sie durchlitten haben, geschehen öfter, als man denkt.
Wer sind die Täter?
Normalerweise der nette Nachbar von nebenan.
Wo geschieht so etwas Schreckliches?
Bestimmt nicht in der einsamen Hütte im Wald. Oder im Verlies eines seit Jahrzehnten verlassenen Krankenhauses. Das sind Szenarien, wie sie in Horrorfilmen gerne genutzt werden.
Der Tatort ist oftmals das Haus, an dem man täglich vorbeifährt. Wo der Garten tadellos aussieht und vielleicht auch Kinder dort spielen.
Leider sind sich viele Menschen nicht der Macht der Manipulation bewusst. Viele können sich nicht vorstellen, dass Täter manchmal ein sehr leichtes Spiel haben, ihre Opfer zu überwältigen.
Die meisten wissen nicht, wie Psychoterror funktioniert.
Und leider wissen auch viele Mitarbeiter der Polizei, der Krankenhäuser und Pflegedienste nicht, die Signale häuslicher Gewalt zu verstehen. Deshalb können sie auch keine Hilfe anbieten. Und wie oft werden Täter auch durch die Gesetze geschützt und können sich dann ungehindert weiter an ihrem Opfer vergreifen?
Die oben erwähnten Fälle von jahrelanger brutaler Gefangenschaft werden erst in der Presse breitgetreten. Bis sich niemand mehr dafür interessiert.
Das wird auch immer so sein.
Deshalb ist es umso wichtiger, Geschichten wie die von Anna Ruston zu kennen und die Augen nicht zu verschließen.